Dieser Beitrag ist Teil der Blogparade „Was bedeutet für mich Selbstbestimmung?“ von Sandra Hoppenz und ich habe das Thema sehr gerne aufgegriffen.
Dabei geht es nicht um schnelle Tipps oder einfache Lösungen. Ich teile meine persönlichen Erfahrungen und Gedanken über Selbstbestimmung mit allen Höhen und Tiefen, die Long Covid und ME/CFS mit sich gebracht haben.
Kennst du das Gefühl, immer funktionieren zu müssen und dabei trotzdem nie wirklich selbst zu entscheiden, wohin dein Leben fährt?
Mein Leben war lange wie eine Formel-1-Saison. Immer auf der Überholspur und immer das nächste Ziel im Blick. Von außen wirkte ich frei und selbstbestimmt. Mein Körper war mein Rennwagen, der scheinbar alles mitmachte. Er wurde von außen betankt, poliert und war immer bereit für jedes neue Rennen. Doch ich fragte nie, ob mein Motor überhaupt noch will.
War das wirklich Freiheit? Oder war es nur das Abarbeiten von Rennen, deren Termine und Regeln andere festgelegt haben? Ist es Selbstbestimmung, immer weiterzumachen oder ist es nicht viel selbstbestimmter, wenn ich bewusst entscheide, wann ich Gas gebe – und wann ich stehenbleibe?

Meine große Illusion von Selbstbestimmung
Damals hielt ich mich für selbstbestimmt. Doch mein Leben spielte sich im Außen ab. Ich funktionierte, war eine Meisterin im Umgang mit To-Do-Listen und getrieben von Erwartungen, Vergleichen und dem inneren Anspruch, mithalten zu wollen. Ich drehte erfolgreich Runde um Runde auf der Rennstrecke.
Erst als mein Körper mit Totalausfall auf der Rennstrecke einfach stehenblieb, begann ich nach und nach zu ahnen, was echte Selbstbestimmung sein könnte. Nicht das Erfüllen äußerer Ansprüche, sondern das bewusste Gestalten des eigenen Lebens. Und das auch (und gerade) mit Einschränkungen.
Vielleicht ist das die große Illusion. Wir glauben, wir hätten Selbstbestimmung, solange wir funktionieren. Doch erst wenn das Außen still wird, kann das Innen endlich gehört werden. Bei mir war genau das der Beginn einer ganz anderen Formel-1-Saison.
Kontrollverlust, wenn das Leben die Handbremse zieht
Als mein Körper aufhörte zu funktionieren, krachte mein ganzes System zusammen und ich verlor jegliche Kontrolle über alles. Plötzlich war ich nicht mehr die Fahrerin des Rennwagens, der bisher immer alles mitgemacht hatte, was ich wollte. Ich wurde Beifahrerin im eigenen Leben und konnte nichts mehr steuern. Mein Körper verweigerte den Dienst. Selbst die einfachsten Alltagsaktivitäten wurden zur Herausforderung. Ich konnte mich nicht erholen, egal wie viel ich schlief. Anfangs ignorierte ich viele Signale meines Körpers. Doch irgendwann bekam die Erschöpfung zwei Namen: Long Covid und ME/CFS.
Ich verlor Routinen, Aufgaben, Sicherheiten und meine Rolle als die, die alles im Griff hat. Die, die funktioniert. Die, die gebraucht wird. Ich fühlte mich ohnmächtig, abhängig, klein. Alles, was mein Leben vorher ausgemacht hatte, Tempo, Struktur, Leistung, Bestätigung, war weg. Dinge, die früher selbstverständlich waren, wurden unmöglich. Ich war gefangen im eigenen Körper. Die Krankheit nahm mir die Kontrolle über meinen Alltag und meine Energie. Mein Körper gab die Regeln vor.
An besonders dunklen Tagen lag ich stundenlang bewegungslos im Bett. Mein Körper fühlte sich an wie Blei und schmerzte. Jeder Gedanke war zu schwer, um ihn zu Ende zu denken. Es war eine Art Körpergefängnis. Wach zu sein, aber körperlich und mental völlig handlungsunfähig. Als würde ich im klebrigen Sirup im Leerlauf feststecken und trotz Gas geben, komme ich keinen Millimeter vorwärts. Ich hatte keine Kraft mehr. Die Welt draußen lebte, während ich das Gefühl hatte, nicht mehr zu existieren. In solchen Momenten ist Selbstbestimmung kein großes Konzept mehr, sondern reduziert sich auf eine Frage: Schaffe ich es, heute aufzustehen oder bleibe ich einfach liegen, weil selbst das zu viel ist? Die Ohnmacht, nicht einmal über die kleinsten Dinge entscheiden zu können, hat mich oft an den Rand der Verzweiflung gebracht.
Wie ich Selbstbestimmung mit Long Covid und ME/CFS lernte
Ich lag still im Bett, während draußen das Leben weiterrauschte. Anfangs konnte ich nicht einmal zuschauen, wie die anderen ihre Runden drehten. Es gab nur mich, meinen Körper, meinen Atem.
Schritt für Schritt begann ich nach innen zu hören. Meditation war anfangs kein spirituelles To-Do, sondern die einzige Möglichkeit, überhaupt noch etwas zu spüren. Mich, meinen Atem, meinen Herzschlag und damit das Leben, das trotz allem noch in mir war.
Rückblickend war das der Wendepunkt. Nicht das große Comeback auf der Rennstrecke, sondern das erste leise Innehalten. Ich muss gerade keine schnellen Runden fahren. Ich muss gerade nichts beweisen. Ich darf einfach mal nur so still da sein. Genau in dieser Stille begann etwas Neues in meiner Sichtweise. Was, wenn dieser Totalausfall ein Hilferuf meines Nervensystems und meines Körpers ist? Ein Körper, der nicht gegen mich arbeitet, sondern mir zeigen möchte, was wirklich wichtig ist.
Kontrolle und Selbstbestimmung sind auch mit chronischer Erschöpfung zwei verschiedene Welten
Nach den ersten Heilungserfolgen versuchte ich, die Kontrolle zurückzugewinnen. Ich entwickelte Strategien, plante meinen Tag minutiös, setzte auf Pacing, Disziplin und Management. Für eine Weile hatte ich das Gefühl, die Krankheit im Griff zu haben. Doch diese Kontrolle war nur scheinbar. Sie beruhte wieder auf äußerer Anpassung und nicht auf echter innerer Arbeit.
Ich merkte, wie ich wieder in alte Muster zurückfiel: funktionieren, leisten, Erwartungen erfüllen. Pacing wurde zum Mittel, um meine Performance zu steigern und noch mehr aus mir herauszuholen, statt wirklich innezuhalten. Die eigentliche innere Arbeit blieb auf der Strecke. Heute bedeutet innere Arbeit für mich, ehrlich wahrzunehmen, wie es mir wirklich geht, welche Bedürfnisse ich habe und wo meine Grenzen liegen. Und vor allem nicht nur bewusst auf meine inneren Signale zu hören, sondern auch darauf zu reagieren.
Erst nach einem erneuten Totalausfall nach der zweiten COVID 19- Infektion lernte ich, meine Energiekörner bewusst wahrzunehmen, zu zählen und zu schützen, wie den letzten Tropfen Benzin in meinem Rennwagen. Ein Energiekorn ist meine persönliche Maßeinheit für die kleinste Portion Energie, die ich an einem Tag zur Verfügung habe. Jede Aktivität kostet eine bestimmte Anzahl von Energiekörnern und ich lerne, diese gut einzuteilen, um nicht zu erschöpfen. Wenn alle Körner verbraucht sind, ist Schluss. Egal, was noch auf der To-Do-Liste steht.
Ich hörte auf, mich an alten Erwartungen festzuhalten, die mir Energie raubten. Stattdessen tastete ich mich voran, lernte, was mir guttut und was ich getrost abgeben darf. Der Kontrollverlust war schmerzhaft. Aber genau darin lag der Anfang echter Selbstbestimmung. Nicht mehr alles können müssen, sondern bewusst wählen, wofür ich meine Energiekörner einsetze. Lange Zeit war das einfach nur atmen und spüren. Eine ganz neue Art von Selbstbestimmung.
Was ist Selbstbestimmung wirklich?
Erst als es dann wirklich still in mir wurde, begann ich zu begreifen, was Selbstbestimmung im Kern bedeutet. Es ist nicht das ständige Funktionieren, nicht das Abarbeiten von Aufgaben und Erwartungen, nicht das Durchhalten um jeden Preis. Es ist das bewusste Spüren, das Annehmen, das Loslassen von Kontrolle. Oder, wie es die buddhistische Lehre so treffend formuliert: Freiheit entsteht dort, wo wir lernen, unsere Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen wahrzunehmen, ohne uns von ihnen treiben zu lassen.
Erst als ich wirklich aufgehört habe, gegen mich selbst und für die Erwartungen im Außen zu kämpfen, konnte ich mich selbst überhaupt erst wahrnehmen. Meditation blieb dabei eine Brücke zu mir selbst und war meine Möglichkeit, mich wirklich zu spüren und zu fragen: Was brauche ich jetzt? Was tut mir gut? Wo darf ich loslassen?
Selbstbestimmung heißt, mitfühlend mit mir selbst zu sein, den Moment zu akzeptieren und immer wieder neu zu wählen, wie ich mit dem umgehe, was ist. Selbstbestimmung ist die Fähigkeit, das Gaspedal nicht krampfhaft zu drücken, sondern bewusst zu entscheiden, wann ich Gas gebe, wann ich bremse und wann ich einfach mal nur so im Rennwagen sitze. Und manchmal lag die größte Freiheit darin zu akzeptieren, dass sich meine Möglichkeiten jeden Tag verändern und ich nur bedingt Einfluss darauf habe.
Selbstbestimmung ist nicht immer rosarot
Ich will keinen Heile-Welt-Beitrag schreiben. Es gibt die guten Tage, an denen ich dankbar bin für alle Fortschritte, die ich bislang schon feiern durfte. Und es gibt die dunklen Tage, an denen ich alles infrage stelle und auf jeden Menschen neidisch bin, der mehr als zehn Energiekörner pro Tag zur Verfügung hat. An diesen Tagen fühlt sich meine Erkrankung wie ein Gefängnis an. Dann bedeutet Selbstbestimmung nur, zu entscheiden, ob ich jetzt oder später esse, ob ich im Bett liege oder sitze.
Viele Außenstehende sehen die positiven Seiten. Zum Beispiel wie ich gelernt habe, meine Energie zu managen, Routinen zu entwickeln, achtsam mit mir umzugehen. Doch was sie selten sehen, ist die ständige Angst vor dem nächsten Crash, vor dem Verlust von Job, Hobbys, Freundschaften und die Unsicherheit, ob es je wieder besser wird. An schlechten Tagen ist Selbstbestimmung ein Thema, das wehtut, weil ich spüre, wie wenig ich wirklich steuern kann.
Selbstbestimmt leben trotz (oder wegen) ME/CFS
Es klingt vielleicht paradox, aber gerade durch die Krankheit habe ich gelernt, mir Freiräume zu schaffen, die ich früher nie für möglich gehalten hätte. Erst durch die radikale Begrenzung meiner Energie wurde mir klar, wie viel Ballast ich jahrelang mitgeschleppt hatte. Ich musste aussortieren, was wirklich zu mir gehört und was ich jahrelang nur für andere getan habe.
Die Krankheit zwingt mich dazu, mich selbst ernst zu nehmen, mir ehrlich zu begegnen und neue Wege der Selbstfürsorge zu finden. Aus der Notwendigkeit wird eine neue Form von Selbstbestimmung, die nicht auf Leistung, sondern auf Verbundenheit mit mir selbst basiert. Und dabei ist der größte Gewinn, das eigene Leben nicht mehr nach fremden Erwartungen zu gestalten, sondern Schritt für Schritt den eigenen, stimmigen Weg zu gehen.
Diese neue Freiheit zeigt sich im Alltag in vielen kleinen Entscheidungen. Ich gestalte meine Tage bewusster nach meinem Energielevel, nehme meine Bedürfnisse ernster und lerne, meine Grenzen zu akzeptieren. Akzeptanz heißt, mit dem zu arbeiten, was da ist und das mit Einfachheit, Großzügigkeit und Geduld. Ich lerne, meine Energiekörner gezielter einzusetzen und Routinen zu entwickeln, die mir guttun.
Das ständige Nachjustieren, was geht und was nicht, fühlt sich heute freier an als alles, was ich im „gesunden“ Leben je erlebt habe. Ich gestalte meine Tage nach meinen Möglichkeiten, nicht nach äußeren Ansprüchen. Ich lerne, mich nicht mehr über Leistung zu definieren, sondern über das, was mir wirklich wichtig ist: innere Ruhe, kleine Freuden, Begegnungen und die Kunst, auch mit wenig Energie ein Leben zu führen.
Meine neue Selbstbestimmung und die Balance im Alltag
So sehr mir die Krankheit geholfen hat, den Fokus mehr auf mich selbst zu richten und meine eigenen Bedürfnisse zu erkennen, so sehr bringt diese neue Selbstbestimmung auch Herausforderungen mit sich, vor allem im Zusammenleben mit anderen. Es klingt befreiend, die eigene Zeit und Energie nach den eigenen Maßstäben einzuteilen. Doch in der Praxis bedeutet das oft, dass ich die Stunden, in denen ich Energie habe, bewusst abwägen muss: Wofür verwende ich sie? Für mich? Für die Familie? Für gemeinschaftliche Aktivitäten? Für den Job?
Gerade im Alltag entsteht dadurch ein Spannungsfeld: Mein Bedürfnis nach Selbstfürsorge und Ruhe steht manchmal im Gegensatz zu den Wünschen und Erwartungen meiner Familie und meiner Umgebung. Ich habe gelernt, meine Grenzen zu setzen. Doch in der Umsetzung ist das nicht immer leicht. Es braucht Kommunikation, Kompromisse und manchmal das Aushalten von Schuldgefühlen, wenn ich mich für mich entscheide.
Diese neue Form der Selbstbestimmung ist nicht nur ein Geschenk, sondern auch eine tägliche Übung im Austarieren zwischen Eigenverantwortung und Verbundenheit. Ich verhandle immer wieder neu: Was brauche ich? Was brauchen die anderen? Und wie finden wir einen Weg, der für alle stimmig ist, auch wenn das bedeutet, dass nicht immer alles perfekt ausbalanciert ist.
Fazit: Selbstbestimmung bei chronischer Erschöpfung ist ein täglicher Akt Schritt für Schritt
Selbstbestimmung ist kein Zustand, den man einmal erreicht und dann für immer behält. Sie ist ein Prozess, ein tägliches Austarieren zwischen alten Automatismen, neuen Erkenntnissen und den Grenzen, die der Körper setzt.
Selbstbestimmung bedeutet nicht, alles zu können oder immer unabhängig zu sein. Sie beginnt da, wo ich ehrlich zu mir bin, meine Bedürfnisse ernst nehme und den Mut habe, auch unbequeme Wege zu gehen. Es ist die Fähigkeit, innezuhalten, nach innen zu lauschen und trotz aller Einschränkungen kleine Entscheidungen bewusst zu treffen. Manchmal ist es genau diese Begrenzung, die den Raum für das Eigene schafft.
Ich bin noch nicht „Tina 2.0“. Ich falle zurück, ich hadere, ich lerne. Aber ich weiß heute: Ich bin nicht mehr nur Beifahrerin, sondern sitze wieder am Steuer meines Lebens. Heute entscheide ich gemeinsam mit meinem Körper, meinem Geist und meinem Nervensystem, wann und wie schnell wir fahren und wo wir mitten auf der Strecke auch mal anhalten. Genau darin liegt meine neue Freiheit. Vielleicht ist das die eigentliche Einladung dieser Krankheit. Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug, das eigene Leben wieder selbst zu gestalten. Nicht trotz der Krankheit, sondern mit ihr.
Tina 2.0 – Schritt für Schritt. Jetzt. Hier. Ich.
Was bedeutet Selbstbestimmung für dich? Gibt es einen Moment, in dem du dich bewusst für dich entschieden hast, ganz klein oder ganz groß? Ich freue mich, wenn du deine Gedanken oder Erlebnisse zum Thema Selbstbestimmung in den Kommentaren teilst. Lass uns gemeinsam sichtbar machen, wie vielfältig Selbstbestimmung im echten Leben aussehen kann. Unsere Erfahrungen können anderen in ihren dunklen Stunden Mut machen.
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