Pacing bei ME/CFS: Der Balanceakt zwischen Achtsamkeit und bewusster Grenzerfahrung

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Mandala im Sand an der Algarve als Symbol von Tina Winzer für Pacing zwischen Flow und Grenze bei ME/CFS
Mein Mandala im Sand an der Algarve und Pacing zwischen Flow und Grenze. Ein Moment, der für mich zum Sinnbild bewusster Grenzziehung und Lebendigkeit mit ME/CFS wurde.

Wenn Schönheit zur Herausforderung wird: Ein Moment am Meer

Es war einer dieser wunderschönen Apriltage an der Algarve. Ich war in Portugal, um körperlich achtsam und im Rahmen meiner Möglichkeiten weiterzukommen. Das war der Plan. Fatigue, genauer gesagt ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom), hatte mein Leben drastisch verändert und schränkt mich körperlich immer noch ein. Aber an diesem Tag fühlte es sich an, als wäre für einen Moment alles wieder möglich.

Das Meer hatte sich durch die Ebbe zurückgezogen und einen breiten, fast endlos scheinenden Strand freigelegt. Ich stand auf festem, noch feuchtem Sand. Der Strand war fast menschenleer. Das leise, gleichmäßige Rauschen der Wellen begleitete mich und ein starker Wind war zu hören und zu spüren. Die Sonne schob sich immer wieder durch den kühlen Frühlingswind und wärmte mich. Es war so schön, mitten in dieser Natur zu sein. Für mich ein seltener, kostbarer Moment von Freiheit und stiller Lebendigkeit, weil ein sehr großer Teil meines Lebens sonst hausgebunden stattfindet.

Ich griff zu einem Stock, der wie zufällig im Sand lag, und begann, inspiriert von Caroline Beck, ein Mandala zu zeichnen. Runde für Runde, Kreis für Kreis. Wie von selbst.

Flow und Warnsignal: Der schmale Grat beim Energie-Management

Ich fühlte mich für einen kurzen Augenblick frei. Ich war im Flow. Es war wie eine dieser Runden auf der Rennstrecke, in denen plötzlich alles passt. Ohne Messen, ohne Nachdenken, ohne Schmerz. Und ja, ich wusste, dass meine Energie vielleicht nicht reicht. Dieses leise Warnsignal begleitet mich nun schon sehr lang und ich weiß sehr wohl, dass Energie bei ME/CFS nicht sofort versiegt, sondern schleichend und kaum spürbar entgleitet. Aber ich wollte dem Impuls an diesem Tag am Strand nicht folgen. Wie ein Kind, das nicht weiß, wie viel Energie es zur Verfügung hat, spürte ich eine Leichtigkeit und eine Normalität, die ich so lange vermisst hatte.

In meiner Sketchnote unten habe ich genau diesen Moment festgehalten und sie „Pacing im Alltag“ genannt mit der Frage: Noch ein Kreis oder doch lieber Abbruch?

Ich habe nicht abgebrochen. Das Mandala wurde nicht nur mein innerer Kompass, sondern auch ein Beispiel für eine Grenzüberschreitung. Was es für mich bedeutet, mit dem Chronischen Erschöpfungssyndrom zwischen Lebensfreude und Selbstschutz zu balancieren und warum Pacing im echten Leben manchmal alles andere als einfach ist, berichte ich dir in diesem Beitrag.

Pacing im Alltag und die ständige Frage bei ME/CFS: „Noch ein Kreis oder doch lieber Abbruch?“ als mein mentales Ping-Pong zwischen Lebensfreude und Selbstschutz.

Die unsichtbare Energiegrenze: Leben mit ME/CFS ohne Warnsystem

So schön der Augenblick am Meer auch war, ich habe meine Energiegrenze überschritten und bin im Crash gelandet. Aber meine Energiegrenze ist kein klarer Moment. Ich habe kein rotes Blinken einer Kontrollleuchte in meinem Rennwagen (Ich vergleiche meinen Körper oft mit einem Rennwagen, weil ich vor der Erkrankung Geschwindigkeit liebte.), die sagt: „Jetzt reicht es.“ Es ist eher dieses feine Unwissen, ob das jetzt bis hierhin schon zu viel ist oder ob es noch im Energierahmen liegt.

Es gibt beim Pacing den Ratschlag, unter seiner Belastungsgrenze zu bleiben und idealerweise bei 50 bis 70% der verfügbaren Energie. Aber was heißt das, wenn ich gar nicht weiß, wie viel Energie mir überhaupt zur Verfügung steht? Wie erkenne ich beim Rennwagen ohne Tankanzeige, dass 50 % des verfügbaren Sprits verbraucht sind? Und genau das ist das Tückische an ME/CFS. Es gibt keine Tankanzeige und damit kein Frühwarnsystem, auf das ich mich wirklich verlassen kann. Ein Rennwagen bleibt stehen, wenn kein Sprit mehr im Tank ist. An der Stelle weiß ich, dass seine Energiegrenze erreicht wurde. Genau diesen Punkt darf ich mit ME/CFS nicht erreichen. Ich muss rechtzeitig vorher bremsen und unter meiner Energiegrenze bleiben.

Dazu kommt PEM, die Post-Exertional Malaise. Dieser Begriff beschreibt die Verschlechterung der Symptome nach körperlicher oder geistiger Anstrengung. Ich nenne es einfach Crash. Er kommt oft erst Stunden oder Tage nach der Belastung. Bei der Belastung fühle ich mich im besten Fall fast normal. Aber normal ist nicht mein Maßstab. Wenn ich nicht aufpasse, fahre ich über meine Grenze, ohne es zu merken. Nicht, weil ich unvernünftig bin, sondern weil die Energiegrenze unsichtbar ist.

Alltag versus Ausnahme: Erfahrungswissen statt Kontrolle

In meinem häuslichen Alltag habe ich mich Stück für Stück an körperliche Belastung herangetastet. Ich kann vergleichen, abwägen und regulieren. Pacing, das bewusste Verwalten meiner Energie, bleibt ein Versuch, mich selbst jeden Tag neu zu verstehen. Es ist ein Spiel aus Beobachtung, Intuition, Geduld und ganz viel Ehrlichkeit. Manchmal schätze ich mich gut ein, manchmal total daneben.

„Kann ich noch oder sollte ich aufhören?“ Diese Frage ist der ständige Begleiter im Kopf. Ein endloses mentales Ping-Pong zwischen dem Wunsch, noch etwas zu schaffen und der Angst vor dem Crash. Die Unberechenbarkeit macht jede Planung zum Glücksspiel. Was gestern noch problemlos ging, kann heute bereits Überforderung sein. Es ist ein täglicher Balanceakt zwischen zu viel Schonung und Selbstüberforderung.

Am Strand in Portugal im Wind beim Zeichnen war nichts vergleichbar. Keine Referenz. Keine Routine. Ich hatte keine Möglichkeit zu kalkulieren, was mein Körper gerade leistet. Ich wusste, dass ich etwas riskiere. Ich wusste, ich bewege mich in einer Grauzone und zeichnete weiter das Mandala in den Sand.

Fatigue-Management zwischen Kontrolle und Lebensfreude

Ich war an diesem Punkt, an dem mein Verstand längst wusste, dass ich später den Preis bezahle, wenn ich jetzt nicht aufhöre. Mein Herz rief: „Bitte noch ein bisschen. Noch einen Kreis. Es ist gerade so schön hier.“ Mein innerer erfahrener Copilot flüsterte mir ins Ohr, dass ich abbrechen soll. Dazu kam Batman, mein alter innerer Antreiber, der mir zurief: „Komm schon, das geht noch was. Du bist doch nicht schwach. Du kannst das. Nur noch ein paar Striche, das geht schon.“

Ich hörte sie alle. Die Vernunft, die Erfahrung, das Wissen. Und in Kombination mit der Schönheit des Moments, dem Flow und der Freude entschied ich mich gegen das Abbrechen. Ich wollte diesen Moment nicht loslassen, nur weil er womöglich zu viel war. Ich wollte ihn halten, weil er mir etwas gegeben hat, das ich lange nicht gespürt hatte: Lebendigkeit.

Der bewusste Regelbruch: mit dem Körper, nicht gegen ihn

Pacing ist kein starres System, sondern ein täglicher Tanz mit der Unsicherheit und mit mir. Es war ein bewusster Regelbruch am Strand und kein unachtsames Drübergehen. Nicht weil ich mich über meinen Körper hinwegsetzen wollte, sondern weil ich mit ihm gemeinsam spüren wollte, wie viel Freiheit gerade möglich ist. Auch wenn diese Freiheit ihren Preis haben wird.

Und genau darin liegt für mich ein Stück Wahrheit, wenn es um Leben mit Fatigue geht. Es geht nicht darum, immer unter der Grenze zu bleiben. Sondern darum, sich bewusst zu entscheiden. Manchmal für Schutz. Manchmal für das Leben. Und manchmal für beides, so gut es eben geht.

Tina 2.0 und ein neuer Leitsatz entsteht

An diesem Tag war mir egal, dass die Tankanzeige von meinem Rennwagen kaputt ist. Ich habe nicht abgebrochen, sondern habe diesen Moment gehalten, mit allen Sinnen genossen und das Mandala zu Ende gebracht, während ich wusste, dass es zu viel sein könnte. Mit jedem Strich hat sich langsam das Mandala und mit ihm mein neuer innerer Leitsatz für mein aktuelles Leben im Zwischenraum geformt:

Tina 2.0 sein – Schritt für Schritt. Jetzt. Hier. Ich.

Dieses Mantra begleitet mich seitdem. Es hilft mir, nicht in alte Muster zurückzufallen oder mich in Zukunftssorgen zu verlieren. Es erinnert mich daran, dass mein Weg nicht mehr von Geschwindigkeit oder Erwartungen bestimmt wird, sondern von Achtsamkeit und Selbstfürsorge.

Die Konsequenzen kamen später. Aber dieser Moment, dieses fertige Mandala mit meinem Mantra im Sand, hat sich tief in mir eingebrannt. Ich war da und habe mich so lebendig wie lange nicht gefühlt.

Ein wunderbarer Moment am Meer in Portugal und das Mandala entsteht. Pacing bei ME/CFS bedeutet, Runde für Runde bewusst zu entscheiden zwischen Flow und Energiegrenze.

Der Crash nach der Grenzüberschreitung und warum er diesmal anders war

Wer mit Belastungsintoleranz lebt, weiß, dass der Crash nicht im Moment der Überlastung kommt, sondern später. Ich hatte am nächsten Tag die körperliche Quittung für meine Überlastung am Strand.

Neben den Glieder- und Muskelschmerzen sowie dieser bleiernen Erschöpfung hat mein Körper nahezu die gesamten Symptome abgespielt. So, als würde er stur den Lehrplan einer Belastungsintoleranz durchexerzieren. Mir war z.B. bei 25°C im Schlafzimmer kalt und selbst Stille hat sich plötzlich laut angefühlt. Es war wieder, als würde mein gesamtes System in einer Schicht aus klebrigem Sirup stecken und die einfachsten Dinge verlangten körperlich und kognitiv bewusste Anstrengung.

Auch jetzt gab es innere Stimmen: „Wie konntest du das machen? Du weißt es doch besser! War das gestern wirklich nötig?“

Und doch fühlte sich diesmal etwas anders an. Ich hatte mitten in der Natur mit meinen Händen und meinem Körper etwas geschaffen. Nicht gegen die Krankheit, sondern mit ihr. Ich war draußen. Ich war lebendig. Es war wunderschön.

Selbstmitgefühl statt Selbstvorwurf: Ein neues Gefühl von Würde

Ich hatte etwas gestaltet, was ich seit Monaten nicht mehr getan hatte. Es war nicht planbar. Es war nicht vernünftig. Aber es war genau das, was ich in diesem Moment gebraucht habe. Trotz der Stimmen in meinem Kopf spürte ich noch etwas anderes: Stolz und Würde. Ich hatte mitten im Crash ein gutes Gefühl in mir.

Kein Grübeln und kein inneres Verhör, wie sonst so oft. Ich suchte nicht die Fehlerkette. Ich haderte nicht. Ich war einfach da in diesem Zustand danach. Mit meinem Körper. Mit dem Wissen, dass ich meine Grenze überschritten habe und dem Gefühl, dass es richtig war. Ich war nicht zornig auf mich und konnte annehmen, was war.

Vielleicht war das der größte Unterschied zu früheren Crashs. Dieses Mandala war längst von der Flut fortgetragen, aber es war in mir noch da. Es war mein Zeichen, dass ich auch noch etwas kann, was nicht im Plan steht und dass ich noch da bin.

Heilung beginnt mit Selbstannahme

Diesmal habe ich etwas erlebt, das mir Kraft gegeben hat. Etwas, das bleibt. Dieses Mandala war mehr als eine Zeichnung im Sand. Diese Zeit am Strand war eine Etappe auf meinem Heilungsweg. Eine, die mich gestärkt hat. Auch wenn es immer wieder Rückschritte gibt, kann ich mit Klarheit, mit Stolz und ohne Schuld aufrecht darin stehen.

Und vielleicht ist es genau das, was Heilung auch ist, sich selbst nicht zu verlieren, wenn man einmal überzieht, sondern sich mittendrin wiederzufinden. Das Mandala war ein wunderbares Zeichen für mich, dass ich noch gestalten kann.

Und so heftig der Rückschlag auch war, diesmal war er nicht sinnlos. Die Weite des Strands. Der Klang der Wellen. Das fertige Mandala. Diese Momente haben mir mehr gegeben, als der Crash mir nehmen konnte.

Wenn das alte Leben nicht mehr passt: Pacing als Weg zu mehr Präsenz

Pacing ist kein starres Konzept. Es ist ein ständiges Ringen zwischen Genuss und Vernunft, zwischen Flow und Crash, zwischen zu viel und zu wenig. Meine Mandala-Geschichte ist kein Lehrbuchbeispiel für perfektes Pacing. Sie ist ein ehrlicher Einblick in mein eigenes Ringen mit der Energieverwaltung, mit den inneren Antreibern, der Vernunft und dem Wunsch nach Leben.

Pacing ist menschlich. Manchmal entscheidet nicht der Verstand, sondern das Herz. Es kann völlig normal sein, über die eigenen Grenzen zu gehen, wenn ein Moment das wert ist. Wichtig ist, diese Entscheidung bewusst zu treffen und danach liebevoll mit sich umzugehen.

Ich weiß noch nicht, wie Tina 2.0 am Ende aussehen wird. Aber ich bin auf dem Weg. Vielleicht bist du es auch. Lass uns gemeinsam herausfinden, wie ein gutes neues Leben aussehen kann, wenn das alte Leben nicht mehr passt.

Was uns verbindet, ist genau dieses Dazwischen. Nicht mehr die alte Version von uns, aber auch noch nicht die neue. Sondern einfach

Tina 2.0 Sein – Schritt für Schritt. Jetzt. Hier. Ich.

mit allem, was dazugehört. Auch mit den Momenten, in denen wir bewusst für etwas, das uns lebendig macht, über unsere Grenzen gehen. Schreibe mir bitte in die Kommentare, wie du mit deinen Runden umgehst, wann du einen Boxenstopp brauchst und was dir auf deiner eigenen Rennstrecke hilft.

Das fertige Mandala im Sand. Mein Symbol für bewusste Grenzüberschreitung, Selbstfürsorge und neue Lebendigkeit mit Long Covid und ME/CFS.

2 Kommentare

  1. Liebe Tina, danke für dein Vertrauen diesen Text lesen zu dürfen.
    Du hast mit deinen Worten mein innerstes berührt und obwohl wir oft über deine Situation reden, hast du mit deiner eingängigen Beschreibung deiner Empfindungen mein Herz berührt und mein Verständnis für deine Situation vertieft.
    Ich höre auch positives heraus und es hört sich nach Aufbruch/Umbruch an.
    Melde dich, ich höre dir zu, bin für dich da und hoffe, dass du diesen Blog für alle öffentlich stellst und ein guter, konstruktiver Austausch mit Betroffenen stattfindet.
    Herzliche Umärmelung Silvia 😘

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