Früher war mein Leben wie eine Formel-1-Saison. Ein Rennen nach dem anderen und ich raste durchgetaktet durch die Tage. Alles war auf Effizienz und Zielerreichung getrimmt. Ich war ehrgeizig, leistungsorientiert und wusste, wie man Gas gibt. Planung, Leistung, Kontrolle waren meine inneren Leitplanken. Sie haben mich sicher und schnell durchs Leben geführt. Ich funktionierte, wusste immer, was zu tun ist und hatte stets Ziele vor Augen. Schnell sein bedeutete für mich, richtig zu sein. Werte? Die gab es. Aber sie waren wie Sponsorenlogos auf dem Auto. Sie waren da, aber ich habe sie nie wirklich hinterfragt. Vieles habe ich einfach aus Familie, Schule, Sport und später dem Job übernommen: Disziplin, Zielstrebigkeit, Durchhaltevermögen.
Dann kam die Erkrankung. Nicht geplant. Nicht gewollt.
Und mit ihr kamen Stillstand und Kontrollverlust. Keine Geschwindigkeit mehr. Kein Plan mehr, der mir die nächsten Schritte zeigte. Kein Ziel, das sich einfach so über Disziplin erreichen ließe. Seitdem bin ich nicht mehr auf der Rennstrecke. Ich sitze auch nicht in der Boxengasse, in der alles rasch repariert wird, damit es gleich und schnell weitergehen kann. Ich bin im Zwischenraum. Zwischen dem, was war und dem, was werden könnte. Hier gibt es keine Rennen mehr, keine Zielzeit. Aber auch keinen Rückzug. Er ist ein neuer, ungewohnter Ort. Ich lebe. Ich beobachte. Ich sortiere. Und ich frage mich:
Was von dem, was mir früher für wichtig erschien, ist überhaupt meins?
Welche Werte haben mich angetrieben und wohin eigentlich?
Die Krankheit hat mir nicht nur meine Energie genommen. Sie hat mir auch die Chance geschenkt, mich neu zu orientieren. In einer Welt voller Reize, Erwartungen und Selbstoptimierungstools merke ich, wie verführbar ich früher war und auch noch bin. Ich habe oft Entscheidungen aus Angst, Anpassung oder dem Wunsch nach Anerkennung getroffen. Heute brauche ich andere Leitplanken. Nicht, um schneller zu werden, sondern um meinem eigenen Tempo und meinen Möglichkeiten treu zu bleiben.
Manche Entscheidungen treffe ich heute nicht, weil ich nicht will, sondern weil ich nicht kann. Meine Energie ist begrenzt und deswegen sind meine Entscheidungen oft nicht frei. Und genau darin liegt die Chance, mich selbst ernst zu nehmen. Was gibt mir Halt, wenn Leistung nicht mehr der Maßstab ist? Wie finde ich Orientierung, wenn so vieles unsicher ist? Was will ICH wirklich, wirklich?
Inmitten von Stillstand und Umbruch haben sich drei Werte gezeigt, die mir nicht nur Halt geben, sondern mich sanft führen. Lange habe ich gezögert, darüber zu schreiben. Diese Werte sind nicht die klassischen Erfolgswerte, aber sie sind es, die mich jetzt tragen. Sie sind mein Maßstab für heute.
Einfachheit. Großzügigkeit. Geduld.
Drei Werte, die mir helfen, in einem Leben ohne Planung, Leistung und Kontrolle neue Klarheit zu finden und mit der Realität sowie mit mir selbst in Verbindung zu bleiben. Sie ermöglichen mir, mein Nervensystem zu beruhigen, den inneren Druck zu lösen und neue Kraft zu schöpfen auf dem Weg zurück ins Leben, zurück zu mir selbst. Vielleicht findest du dich in einem dieser Werte wieder. Oder du spürst einen Impuls, deine eigenen Werte in deinem Leben zu hinterfragen.

Mein Wert Nr. 1: Einfachheit, weil Komplexität Energie kostet
Was Einfachheit für mich bedeutet
Einfachheit ist für mich kein minimalistisches Ideal, kein Trend, sondern eine Überlebensstrategie. Seit chronische Erschöpfung mein Leben bestimmt, habe ich gelernt, dass Energie das Wertvollste ist, was ich habe. Wenn du plötzlich nur noch liegst, jeder Reiz zu viel ist und nichts mehr funktioniert wie früher, verschiebt sich alles. Was selbstverständlich war, wird fragwürdig. Was vorher normal war, wird spürbar schwer. Und irgendwann taucht die Frage auf: Muss das wirklich so sein?
Wie ich Einfachheit im Alltag lebe
Einfachheit heißt für mich, Entscheidungen leichter zu machen, Komplexität, Multitasking und Reizüberflutung zu reduzieren und Dinge wegzulassen, die mir Energie ziehen. Sie bedeutet für mich heute auch bei allen Dingen radikal ehrlich zu hinterfragen, was ich tue und warum ich es so tue, wie ich es tue. Mache ich das, weil ich es will oder weil „man-es-so-macht“? Mache ich das, weil es mir dient oder weil ich es immer so gemacht habe? Mache ich das für mich oder für Erwartungen, die ich nie bewusst geprüft habe?
Mein Energiemanagement und die 10 Energiekörner
Meine „10 Energiekörner“ (Energiekörner sind eine von mir ausgedachte Metapher für eine persönliche Energieeinheit, mit der ich meinen täglichen Energiehaushalt anschaulich mache.) sind mein innerer Maßstab. Während gesunde Menschen vielleicht 40 Energiekörner pro Tag haben, muss ich mit weniger haushalten. Jedes Zuviel, sei es an Aufgaben, Kontakten, Reizen oder Ansprüchen, kostet mich Energie und kann zu einem Aus- oder Rückfall führen. Deswegen muss ich radikal ehrlich sein und Ballast abwerfen.
Ich stelle mir inzwischen in fast jedem Bereich meines Lebens die Frage: Brauche ich das wirklich oder kann es weg? Egal ob beim Kleiderschrank, bei der Wäsche, der Ernährung, im Haushalt, bei Küchenschrankinhalten oder bei täglichen Abläufen, wenn mein Kopf wieder mal vorgibt, was wann und wie gemacht werden muss. Alles, was nicht wirklich nötig ist, darf gehen. Alles, was einfacher gemacht werden kann, wird im Ablauf verändert. Alles muss übersichtlich und einfach zu händeln sein. Überlebenswichtige Dinge habe ich in meiner Nähe. Alles ist so organisiert, dass ich mit wenig Aufwand drankomme. Das schafft Platz, spart vor allem Energie und gibt mir Sicherheit, vor allem dann, wenn mein Energielevel weit unten ist. Gerade an Tagen mit wenig Energie gibt mir diese Übersicht und Klarheit ein Gefühl von scheinbarer Kontrolle, auch wenn vieles trotzdem chaotisch bleibt.
Einfachheit als Weg zu mehr Leben
Einfachheit ist die Entscheidung, mein Leben neu zu ordnen, weil ich eben weniger Energie zur Verfügung habe. Wenn ich meine 10 Energiekörner nicht einfach so verstreue, sondern gezielt einsetze, kann ich meinen Tag trotz Einschränkungen gestalten und leben. Gerade in der Erschöpfung ist es heilsam, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Atmen, fühlen, wahrnehmen, was gerade gebraucht wird. Jede zusätzliche Entscheidung, jede unnötige Information wird zur Last für ein ohnehin überfordertes Nervensystem. Mein eigener Weg durch das chronische Erschöpfungssyndrom hat mir immer wieder gezeigt: Je mehr ich Ballast abwerfe, desto mehr Raum entsteht für Regeneration und innere Klarheit.
Einfachheit ist für mich kein Rückzug, sondern der Weg zu mehr Leben innerhalb meiner Grenzen. Das heißt, weniger Planen, weniger Kämpfen, weniger Müssen und dafür mehr Raum für das, was mir guttut. Und das beginnt mit der Frage: Geht das auch einfacher? Spoiler, ja, meistens geht es einfacher. Und nein, es klappt nicht immer. Bei bestimmten Themen verschwende ich meine Energiekörner immer noch für Komplexität und Geschwindigkeit, weil mein altes System einfach mal wieder Gas gibt.
Mein Wert Nr. 2: Großzügigkeit, mir selbst gegenüber
Großzügigkeit beginnt bei mir selbst
Im Buddhismus gilt Großzügigkeit als Schlüssel zur inneren Freiheit. Sie meint nicht nur das Geben von materiellen Dingen, sondern auch das Schenken von Zeit, Aufmerksamkeit und Freundlichkeit. Und das ausdrücklich auch sich selbst gegenüber.
Fernab von buddhistischen Lehren dachte ich früher bei Großzügigkeit vor allem an Geschenke und Hilfe für andere, für andere da zu sein. In meinem alten Leben war es normal, so wenig wie möglich zu nehmen und so viel wie möglich zu geben. Doch mit dem chronischen Erschöpfungssyndrom wurde Großzügigkeit zu einer Haltung, die ich mir selbst gegenüber einnehmen musste. Nicht aus Egoismus, sondern aus Notwendigkeit. Mein Energiesystem hat mich gezwungen, immer wieder fragen zu müssen, wohin meine Kraft geht.
Was Großzügigkeit mit chronischem Erschöpfungssyndrom bedeutet
Ich wusste, dass ich nicht überlebe, wenn ich nicht großzügig mit mir selbst bin. Ich brauche mehr Pausen, mehr Stille, mehr Wiederholungen, mehr Struktur, mehr Selbstzuwendung, als mein früheres Ich je erlaubt hätte. Großzügigkeit heißt, nicht zu sparen an dem, was mich stabilisiert und nicht zu verurteilen, wenn ich weniger schaffe, als ich will. Es ist eine andere Art von Größe, die nicht auf Leistung basiert. So die Theorie. In der Umsetzung war es für mich eine Herausforderung, echte Großzügigkeit mit mir selbst wirklich zu leben.
Mein Training in Selbst-Großzügigkeit
Lange habe ich gebraucht, um zu erkennen, wie streng ich trotz des Wissens mit mir selbst war. Jeder Rückschritt fühlte sich wie ein Versagen an, jede Pause wie eine Schwäche. Ich habe mich für meine Grenzen und mein Nicht-Funktionieren geschämt. Erst als ich begann, mir selbst großzügig zu begegnen, habe ich Fortschritte bei meiner Regeneration gemacht.
Großzügig mit mir selbst zu sein heißt heute, mir Schlafpausen am Tag zu erlauben, auch wenn es „erst“ 09.30 Uhr am Morgen ist und mein schlechtes Gewissen nörgelt. Großzügig heißt auch, die To-Do-Liste mitten am Tag zu ignorieren, wenn ich keine Energie mehr habe. Und mich dann nicht zu verurteilen, wenn ich weniger schaffe, als ich will. Es bedeutet, Unterstützung anzunehmen, wenn mein Akku leer ist und Hilfe zuzulassen, ohne mich zu schämen. Für mich war das sehr schwer, weil ich gelernt habe, vieles allein schaffen zu müssen. Doch gerade in der Erschöpfung ist es wichtig, sich Unterstützung zu gönnen, weil es meine Ressourcen schützt. Großzügigkeit zeigt sich in der Art, wie ich mit mir spreche, ob ich einen unperfekten Tag akzeptiere, ob ich Raum lasse für Erschöpfung, statt sie wegzuerklären.
In der Zeit, als gar nichts mehr ging, war Großzügigkeit keine große Herausforderung. Sie wurde erst schwerer, als ein Teil meiner Energie zurückkehrte und ich mit meinen 10 Energiekörnern anfangs so getan habe, als könnte ich wieder alles schaffen. Hier begann mein eigentliches Training in Großzügigkeit mit mir selbst!
Ich übe, mir selbst immer wieder neue Chancen zu geben mit Nachsicht, Mitgefühl und der Erlaubnis, nicht perfekt zu sein. Es bedeutet, meinen Energiehaushalt zu respektieren und nicht permanent über meine Grenzen zu gehen, nur um Erwartungen zu erfüllen. Ich lerne, auf der Formel-1-Rennstrecke meines Lebens langsamere, bewusstere Runden zu drehen. Runden, bei denen ich stehen bleiben darf. Runden, bei denen ich Zeit habe, den Motor zu hören, die Temperatur zu spüren, die Reifen zu checken und die Landschaft zu genießen. Ich erfülle nicht mehr die Erwartungen für die Formel 1, aber ich fahre wieder ein Rennen, meine Rennen.
Großzügigkeit im Umgang mit anderen
Auch im Umgang mit anderen ist Großzügigkeit heilsam. Ich habe gelernt, dass nicht jeder verstehen kann, wie es mir geht und was die Erkrankung wirklich ist. Das ist okay. Ich versuche, anderen ihre eigenen Wege und Reaktionen zu lassen, ohne mich zu vergleichen oder zu rechtfertigen. Auch wenn mir das nicht immer gelingt.
Großzügigkeit ist der Versuch, alles was gerade ist mit mehr Weite und weniger Urteil zu betrachten. Sie ist kein Luxus, sondern die innere Erlaubnis, mit meinen Grenzen und Rückschritten zu leben und trotzdem mutig weiterzugehen.
Mein Wert Nr. 3: Geduld, wenn Pacing flüstert und der Rennwagen startet
Geduld gegen alte Reflexe
Geduld klingt wie ein ruhiges, sanftes Abwarten. Aber Geduld ist alles, nur nicht sanft. Für mich ist sie ein Widerstand gegen alte Reflexe. Ich wurde auf der Formel-1-Rennstrecke meines Lebens darauf konditioniert, Leistung zu bringen, schnell zu reagieren, Ergebnisse zu erzielen. Doch bei ME/CFS greifen diese alten Mechanismen nicht mehr. Auch wenn ich die Regeln meiner Erkrankung inzwischen auswendig kenne, drückt mein inneres System manchmal noch automatisch auf das Gaspedal. Während ich in Gedanken „Pacing“ flüstere, fährt mein Körper längst die nächste schnelle Runde. Genau dann braucht es Geduld.
Geduld im Alltag ist meine ständige Lernkurve
Geduld im Alltag mit ME/CFS ist,
- wenn Theorie und Praxis nicht dieselbe Zeitrechnung haben.
- wenn mein Körper sich nicht an Pläne hält, sondern an Prozesse, die jenseits meines Willens geschehen.
- wenn ich weiß, wie es „gehen sollte“, es aber heute doch nicht geht.
- wenn ich immer wieder neu beginne und zum x-ten Mal dieselbe Grenze überschreite.
- wenn zwei Schritte vor und einer zurück sich wie ein Rückschritt anfühlen. Und ich trotzdem nicht hart mit mir sein will.
- wenn mein Tag komplett anders läuft als gedacht und ich abends trotzdem zufrieden bin, weil ich auf mich gehört habe.
- wenn ich mir neu Zeit gebe und das Tempo rausnehme. Mein Körper ist kein Formel-1-Rennen.
- wenn mein Körper plötzlich wieder streikt und ich im Bett lande, obwohl ich dachte, alles im Griff zu haben.
- wenn ich mich auch mal nicht an Pacing halte, obwohl ich weiß, wie wichtig es ist.
- wenn ich akzeptiere, dass mein Leben anders tickt.
Und manchmal ist das Geduldigste, was ich tun kann: NICHTS. Nichts machen und warten, bis der nächste Impuls aus meinem Inneren kommt, nicht aus meinem Kopf.
Kleine Fortschritte feiern
Geduld ist das Fundament jeder Heilreise und gleichzeitig eine der größten Herausforderungen. Chronische Erschöpfung hat mich gelehrt, dass Regeneration nicht linear verläuft. Es gibt Rückschläge, Plateaus und manchmal scheinbar endlose Phasen des Stillstands. Geduld bedeutet, meinen Heilungsprozess zu akzeptieren, egal, wie lange er dauert. Rückschritte sind kein Scheitern, sondern Teil des Weges. Ich habe gelernt, dass mein Körper nicht gegen mich arbeitet, sondern mir zeigt, wo ich besser für mich sorgen darf.
Heute notiere ich in meinem Planer nicht mehr jedes Rennen der Formel-1-Saison, sondern die kleinen Fortschritte, die ich gemacht habe. Eine Zeit ohne Infekt, eine Nacht mit erholsamem Schlaf, Bewegungen und Tage ohne Crash. So kann ich auch in schwierigen Phasen sehen, wie weit ich schon gekommen bin.
Geduld mit meinem Umfeld
Auch Geduld mit meinem Umfeld musste ich erst lernen. Ich erkläre ME/CFS so gut ich kann und lasse dann los, denn ob es jemand versteht, liegt nicht in meiner Hand.
Geduld als leise Kraft
Geduld heißt, mich nicht von inneren und äußeren Maßstäben treiben zu lassen. Es gibt keinen „richtigen“ Zeitplan für Heilung. Ich erlaube mir, in meinem Tempo Schritt für Schritt zu gehen, mit dem Vertrauen, dass jeder Tag zählt. Geduld ist die leise Kraft, die mich im Zwischenraum immer wieder neu ausrichtet, wenn sich der Weg zäh, trüb oder frustrierend anfühlt. Geduld schenkt mir die Freiheit, diesen Weg zu gehen, Rückschläge als Lernchancen zu begreifen und die Hoffnung nie zu verlieren auf dem Weg zu
Tina 2.0 – Schritt für Schritt. Jetzt. Hier. Ich.
Welche Werte tragen dich durch deinen Alltag? Teile es gerne in den Kommentaren. Ich freue mich auf den Austausch mit dir.
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